„Erst die persönlichen Genomdaten machen die Medizin richtig schlagkräftig.“ So titelte Alan Niederer, renommierter Wissenschaftsjournalist bei der NZZ, einen Meinungsartikel Mitte Mai 2022. Die Online-Kommentare zeigen: In der Öffentlichkeit ist das Thema genetische Medizin noch mit vielen Zweifeln und Ängsten verbunden. Prof. Sabina Gallati und Prof. Thomas D. Szucs, beide Co-Leitung von Hirslanden Precise, haben sich die Kommentare angesehen, einige Behauptungen ausgewählt und stellen diese richtig.

Worum geht es bei der genetischen Medizin?

Ergänzend zu traditionellen Ansätzen der Medizin wird in der genetischen Medizin das Wissen aus der DNA, also dem Erbgut einer Person miteinbezogen. Viele Gen-Mutationen sind schon gut dokumentiert und können auf ein erhöhtes Risiko für gewisse Krankheiten hindeuten oder aufzeigen, ob eine gewisse Therapie wirken kann oder nicht. Das Wissen kann genauere Diagnosen, zielgerichtete Präventionsmöglichkeiten und wirksamere Therapien ermöglichen.

Behauptung 1: Man kann sein Schicksal eh nicht ändern.

„Eine Genomsequenzierung verhindert nicht das Risiko eines Autounfalls, eines Schicksalsschlags oder Privatkonkurses. Die Zukunft kann man nicht manipulieren; es kommt, wie es kommt, so oder anders.“

Prof. Gallati: Eine genetische Analyse verhindert natürlich keinen Autounfall. Aber sie wirkt sozusagen wie eine Art Sicherheitsgurt, der vieles abfedern kann. Zum Beispiel wissen wir heute, dass 5-10% Prozent aller bösartigen Tumorerkrankungen vererbt werden. Das gilt insbesondere für Brust-, Eierstock-, Prostata-, Darm- und schwarzen Hautkrebs. Auch viele Herz-Kreislauferkrankungen, gefährliche Stoffwechselerkrankungen oder das Diabetes-Risiko, können vererbt werden. Wenn man weiss, dass jemand eine bestimmte Genvariante in sich trägt, kann man entsprechende Präventionsmassnahmen, wie engmaschigere Vorsorgeuntersuchungen ergreifen, oder eine frühzeitige und individuell abgestimmte Therapie beginnen.

Genetische Untersuchungen sind längst keine Zukunftsmusik mehr, sondern sind bereits heute in den medizinischen Leitlinien zur Diagnose und Prävention verschiedener Erkrankungen enthalten. Damit sind sie tatsächlich die erste Wahl bei der Erkennung und Behandlung in verschiedenen Fachbereichen.

Das Schicksal, ob jemand eine krankheitsauslösende Genvariante in sich trägt, kann man durch eine Genanalyse also tatsächlich nicht ändern. Genanalysen erlauben jedoch durch präzise Diagnosen bessere Prävention und individuellere Therapien. Damit kann viel Leid vermindert, im besten Fall sogar der Ausbruch einer Krankheit verhindert werden.

Behauptung 2: Genmedizin ist nur Geldmacherei und ein Geschäft mit denen, die es sich leisten können.

Prof. Szucs: Genmedizin ist tatsächlich ein ziemlich neues Gebiet. Wie so oft, werden innovative Therapien vor allem in Zusatzversicherungen angeboten. ABER:

  • In der Schweiz wird die genetische Beratung, die gemäss Bundesgesetzt vor jeder Analyse durchzuführen ist, von der obligatorischen Krankenversicherung übernommen. In der Beratung besprechen wir gemeinsam mit dem/der Patientin, welche Analyse sinnvoll ist.
  • Die Kosten der Analyse werden von der obligatorischen Krankenkasse übernommen, wenn eine klare therapeutische Konsequenz aus der Analyse hervorgeht (Anpassung der Therapie bspw.). Bei jeder Analyse reichen wir eine Kostengutsprache ein und argumentieren so gut als möglich, um unseren Patientinnen, die genetische Analyse zu ermöglichen, die im Rahmen der Beratung als sinnvoll definiert wurde.
  • Dank technologischen Fortschritten, wie der Hochdurchsatzsequenzierung – mit der wir auch in unserem Labor arbeiten –, sind die Preise für Analysen stark gesunken. Einzelne Gene können bereits für einen dreistelligen Betrag untersucht werden. Deshalb ist es auch so wichtig, zu wissen, welche Gene es sich zu analysieren lohnt. So können die Kosten tiefer gehalten werden.
  • Wir sind zuversichtlich, dass mit der zunehmenden Datenlage immer mehr Analysen von den Krankenkassen übernommen werden. Schliesslich ist Prävention immer günstiger, als die Behandlung einer Krankheit.

Behauptung 3: Genmedizin öffnet Datenmissbrauch Tür und Tor.

„Das individuelle Genom sollte nur unter der Voraussetzung genutzt werden dürfen, dass gesetzlich jegliche Diskriminierung nach dem Genom strengstens verboten ist. Man stelle sich z. B. vor, die Krankenkassen würden ihre Prämien und ihre Versicherungsleistungen nach dem Genom differenzieren, Arbeitgeber würden Träger bestimmter Gene grundsätzlich nicht beschäftigen, Universitäten nur noch Träger bestimmter Gene promovieren lassen, etc.“

Prof. Gallati: Datenmissbrauch ist tatsächlich eine nachvollziehbare Angst. Um den Missbrauch von genetischen Informationen zu verhindern, wurde in der Schweiz bereits 2007 das Gesetz zu genetischen Untersuchungen (GUMG) verabschiedet. Analysen dürfen nicht ohne ein vorhergehendes Beratungsgespräch durchgeführt und Daten nicht unerlaubt an Dritte weitergegeben werden. Der Datenschutz hat höchste Priorität. Mit der anstehenden Revision des Gesetztes (nGUMG), die noch dieses Jahr in Kraft tritt, werden die rechtlichen Auflagen sogar noch strenger.

Behauptung 4: Genmedizin ist kompliziert und teuer.

„Guter Vorschlag, ich frage mich einfach wie wir das umsetzen. So wie ich die Schweizer kenne, wird das sequenzierte Genom dann ausgedruckt, an eine Informatikbude im Kanton ZG gefaxt, dort dann eingescannt, geOCRt und dann unverschlüsselt auf einem Google Drive abgelegt. Das Ganze kostet dann 200 CHF pro Seite.“ 

Prof. Gallati: Früher war Genetik etwas Exotisches, heute jedoch ist sie aus keinem medizinischen Fachgebiet mehr wegzudenken. Bei manchen Erkrankungen, insbesondere bei Herzkreislauf- und Krebserkrankungen sind genetische Analysen bereits in den Behandlungsplan integriert. Die genetische Analyse an sich ist schon komplex und die Auflagen sind streng – und das ist gut so. Der Prozess ist aber klar: Ein Beratungsgespräch ist vor jeder Analyse gesetzlich vorgeschrieben. Mit einer Stammbaumanalyse definieren wir, welche Analysen sinnvoll sind. Anschliessend entnehmen wir Blut, analysieren die DNA und suchen dann nach den vermuteten Genvarianten. Dabei verlassen weder die DNA noch die Daten unser Labor/unsere Datenbank.

Behauptung 5: Das Wissen zum persönlichen Risiko ist eine enorme Belastung.

„Die Diagnose, ein Krebs Gen in sich zu tragen, oder eine Genvariante, die eine schwere Stoffwechsel- oder Herzerkrankung auslösen kann, ist nur eine Belastung.“

Prof. Szucs: Die Frage, wie man mit so einer Diagnose umgeht, ist sehr individuell. Es gibt Personen, die wissen möchten, welche Risiken sie in sich tragen, um entsprechend präventiv (engmaschigere Untersuchungen, etc.) handeln zu können. Andere möchten in den Tag hineinleben. Beides ist richtig. Seine Meinung darf man auch im Prozess noch ändern: Es gibt ein gesetzliches Recht auf Nichtwissen. Zu jedem Zeitpunkt im Prozess darf man aussteigen und erfährt nicht, welche Varianten gefunden wurden.

Allerdings ist auch wichtig zu verstehen, dass ein Risikogen nicht automatisch heisst, dass man auch an der Krankheit erkrankt. Man hat aber ein erhöhtes Risiko. Dieses Risiko lässt sich allenfalls durch ein engmaschiges Präventionsprogramm und eine Änderung des Lebensstils minimieren. Mitunter kann auch frühzeitig mit einer medikamentösen Behandlung begonnen und der Ausbruch einer Krankheit im besten Fall verhindert werden.

Behauptung 6: Die Genmedizin bestimmt die Lebensplanung bis hin zur Partnersuche.

„Partner werden sich fragen müssen, ob sie auch genetisch zusammenpassen, bevor sie Nachwuchs in die Welt setzen.“

Prof. Gallati: Müssen tun sie das sicher nicht. Personen mit Kinderwunsch dürfen nach wie vor alles auf sich zukommen lassen. Es wäre auch schade, wenn es nicht so wäre. Aber es gibt auch Menschen, die sich über die medizinischen Risiken für ihr Kind informieren möchten. Vielen ist nicht bewusst, dass auch gesunde Erwachsene schwere Erbkrankheiten in sich tragen können. Wenn zufälligerweise beide Elternteile eine Krankheit verursachende Variante im gleichen Gen tragen, würde das Kind schwer erkranken. Darauf möchten sich heute viele Personen psychisch, finanziell und auch medizinisch vorbereiten. Oder sie entscheiden sich nach einem Carrier-Test für eine andere Möglichkeit, eine Familie zu gründen.

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Zweifeln Sie daran, ob eine genetische Untersuchung für Sie sinnvoll ist? Wir unterstützen und beraten Sie gerne: hirslanden.precise@hirslanden.ch / 044 511 39 11