Viele Trägerinnen und Träger genetisch bedingter Erbkrankheiten wissen nicht, dass sie ein mutiertes Gen in sich tragen und dieses ungewollt an ihr Kind weitergeben können. Mithilfe sogenannter Träger-Tests können sich Paare mit Kinderwunsch auf eine Reihe unheilbarer Erbkrankheiten testen lassen. Während der Schwangerschaft können genetische Untersuchungen beim Ungeborenen allfällige Erbkrankheiten, aber auch Chromosomenanomalien wie Trisomien, bereits im ersten Trimester aufdecken. Dr. Markus Bleichenbacher klärt auf und ordnet die Möglichkeiten und den Mehrwert dieser genetischen Untersuchungen für Paare mit Kinderwunsch ein.

Sie führen eine Kinderwunsch-Praxis. Kinderwunsch und Schwangerschaft sind grundsätzlich sehr «romantisierte» Themen. Bleibt die Romantik durch die Möglichkeit genetischer Untersuchungen auf der Strecke, oder können Paare trotzdem noch alles auf sich zukommen lassen?

Natürlich können Eltern weiterhin alles auf sich zukommen lassen. Es wäre auch schade, wenn es nicht so wäre. Aber viele Paare gehen die Familienplanung heute gezielter an. Zunehmend kommen Paare zu mir, die sich über allfällige Risiken für ihr Kind informieren möchten und über Möglichkeiten, diese zu minimieren. Das sind in der Regel nicht mehr die jüngsten Paare. Sie wissen, dass die Risiken mit dem Alter steigen.

Wer kommt wegen einer genetischen Beratung zu Ihnen in die Praxis?

Zu mir in die Sprechstunde kommen am häufigsten Paare, nachdem es mit dem Kinderwunsch auf natürlichem Weg nicht geklappt hat. Manchmal wollen sie auch eine Zweitmeinung einholen. Im Rahmen der Vorgespräche zu einer Kinderwunschbehandlung sind genetische Risiken immer ein Thema.

Inwiefern?

In Bezug auf zwei Themen: Zum einen können schon bei der Zeugung Erbkrankheiten weitergegeben werden, von denen die Eltern nichts gewusst haben. Zum anderen geht es um Chromosomenanomalien. Am bekanntesten ist die Trisomie 21 (auch bekannt als „Down-Syndrom“), bei der ein überzähliges Chromosom 21 vorhanden ist. Diese Anomalie ist zwar genetisch bedingt, aber keine Erbkrankheit.

Reden wir zuerst über die Erbkrankheiten. Deren Risiko wird vor der Schwangerschaft mit dem sogenannten Träger-Test (Carrier-Test) bestimmt. Worum genau geht es bei diesem Träger-Test?

Das ist ziemlich komplex: Vereinfacht gesagt, geben beide Elternteile von einem Gen-Paar je ein Exemplar an ihr Kind weiter. Das Kind hat somit pro Gen zwei „Ausführungen“ (ein Gen-Paar). Manche Erbkrankheiten kommen erst zum Ausbruch, wenn beide Gene verändert, also mutiert sind (=rezessive Erbkrankheiten). Wenn nur ein Gen mutiert ist, kann das gesunde für das veränderte Gen kompensieren. Die betroffene Person ist gesund, kann das Gen aber weitervererben. Wenn beide Elternteile Träger oder Trägerin der gleichen Erbkrankheit sind, besteht für das Kind ein Risiko von 25 Prozent, beide kranken Gene zu erben und zu erkranken. Sinn des Träger-Tests ist es, dieses Risiko zu erkennen, um entsprechende Vorkehrungen treffen zu können.

Welche Erbkrankeiten sind das vor allem?

Die häufigste Erbkrankheit ist die Cystische Fibrose, dann gibt es beispielsweise noch Muskelerkrankungen und neurologische Erkrankungen. Für das persönliche Risiko spielt die Familiengeschichte und die Herkunft eine Rolle.

Wieso die Herkunft?

Gewisse Krankheiten treten regional gehäuft auf. In Afrika und Süditalien treten Blutkrankheiten beispielsweise häufiger auf als in Nordeuropa. Aber auch in der Schweiz gibt es Häufungen von Erbkrankheiten, hauptsächlich in entlegenen Bergtälern.

Für wen ist eine genetische Untersuchung sinnvoll? Wie läuft ein solcher Test ab?

Für Paare, die wissen möchten, ob sie unwissentlich Träger einer Erbkrankheit sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Elternteile Träger sind, ist gar nicht so klein. Bei der Cystischen Fibrose liegt die Wahrscheinlichkeit einer Trägerschaft bei vier Prozent. Da die Krankheit rezessiv vererbt wird, also nur auftritt, wenn beide Elternteile das Gen weitergeben, gibt es eben gesunde Menschen, die gar nicht wissen, dass sie das veränderte Gen in sich tragen. Natürlich muss man das nicht testen lassen. Es gibt auch ein Recht auf Nicht-Wissen.

In einer ersten genetischen Beratung wird festgelegt, auf welche genetischen Erkrankungen ein Paar getestet werden sollen. Dazu erfragen wir u.a. die Familiengeschichte. Wird ein Test gewünscht, entnehmen wir eine Blutprobe analysieren diese im Precise Labor. Im Anschluss werden allfällige Auffälligkeiten mit dem Paar besprochen.

Welche Möglichkeiten gibt es, wenn beide Elternteile Träger einer Erbkrankheit sind?

Das Paar kann sich entscheiden: Eine Möglichkeit ist, dass das Paar auf eigene Kinder verzichtet und zum Beispiel Kinder adoptiert. Oder das Paar nimmt fremde Samen oder Eizellen zu Hilfe. Oder man entscheidet sich, das „Risiko“ einzugehen, dass ein Kind mit einer unheilbaren Krankheit auf die Welt kommt.

Bei einer künstlichen Befruchtung ist es bei unheilbaren Krankheiten erlaubt, den Embryo zu untersuchen (Präimplantationsdiagnostik), so dass man nur einen gesunden Embryo einsetzt.

Sie sehen – Trägertests können zu ethisch sehr brisanten Fragen führen: Wer hat das Recht über ein Leben zu entscheiden? Respektive, ist ein Leben mit Krankheit weniger lebenswert? Jedes Paar hat das Recht etwas wissen zu wollen aber eben auch, etwas nicht wissen zu wollen. Dem muss man immer Rechnung tragen. Und das Paar muss sich der Konsequenzen bewusst sein, allfällig schwierige Entscheidungen (bis zu Schwangerschaftsabbruch) treffen zu müssen.

Erbkrankheiten werden nicht nur vererbt, sondern können auch jederzeit neu entstehen.

Genau. Queen Victoria von England war Trägerin des Gens für die Hämophilie (Bluterkrankeit). Man geht heute davon aus, dass die Mutation bei ihr neu entstanden war, da bei ihren Vorfahren keine Erkrankung bekannt ist. Einer von zwei Söhnen, der spätere König Leopold, erkrankte an der Krankheit, seine Tochter Alice war wiederum Trägerin und deren Sohn Rupprecht erkrankte dann. Über zwei Töchter von Victoria wurde die Krankheit ebenfalls weitergegeben. Dies lässt sich in einem Stammbaum schön darstellen.

Gehen wir jetzt davon aus, der Carrier-Test kam negativ zurück – also keine Gefahr für eine Erbkrankheit. Das Paar entscheidet sich, ein Kind zu bekommen. Wie geht es dann weiter?

Keine Gefahr für eine Erbkrankheit würde ich so nicht stehen lassen. Reden wir lieber von einer geringen Gefahr. Es kann jederzeit auch durch Mutation eine Erbkrankheit neu entstehen. Wie etwa bei Queen Victoria. Daher empfehlen wir, während der Schwangerschaft trotzdem das Kind mittels der Ultaschalluntersuchungen gut zu überwachen.

Der nicht-invasive Pränatal Test (NIPT) wird ausserdem seit gut zehn Jahren eingesetzt, um Chromosomenanomalien beim ungeborenen Kind zu entdecken.

Stichwort Chromosomenanomalie und nicht-invasiver pränatal Test (NIPT). Das war das zweite Thema im Bereich Genetik, das Sie in den Sprechstunden ansprechen.

Genau. Diese Anomalie ist zwar genetisch bedingt, aber keine Erbkrankheit. Eine Trisomie entsteht meistens zufällig und liegt nur ausnahmsweise in der Familie. Wichtigster Faktor ist das Alter der Frau. Das Alter des Mannes spielt eine geringere Rolle. Die weltweit häufigste Ursache bei Behinderungen von Kindern ist übrigens der Alkoholmissbrauch der Mutter in der Schwangerschaft. Trisomie 21 ist erst die zweithäufigste Ursache. Dieser kann man nicht vorbeugen. Ein Paar mit 40 Jahren hat eben ein höheres Risiko als mit 30, nämlich circa 1 zu 100. Das ist relativ viel. Das Risiko der Chromosomenanomalien prüft man während der Schwangerschaft ab der 10. Schwangerschaftswoche zum Beispiel mittels Blut- oder Ersttrimestertest, bei dem unter anderem im Ultraschall die Dicke der Nackenhaut gemessen wird.

Eltern wollen gerne das Beste für ihr Kind. Aber gibt es für Eltern trotz aller Testmöglichkeiten überhaupt eine Sicherheit, dass ihr Kind gesund zur Welt kommt?

Nein, eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Nicht alle Erkrankungen sind genetisch bedingt. Zudem können auch alle genetischen Krankheiten durch Neumutation entstehen. Ich mache die Paare immer darauf aufmerksam, dass die Sorgen auch nach einem Test nie aufhören. Aber trotz der Sorgen, bringt das Elternsein doch vor allem sehr vieles Schönes und Bereicherndes mit sich.

 

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