Die Genmedizin ermöglicht präzisere Diagnosen und dadurch auch gezieltere Therapiemöglichkeiten, weiss Prof. Dr. phil. nat. Sabina Gallati, Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für genetische Untersuchungen beim Menschen und Co-Direktorin der in der Hirslanden-Gruppe neu geschaffenen Abteilung für Humangenetik.
Was sind die heutigen Möglichkeiten der Genetik?
Früher war Genetik etwas Exotisches, heute jedoch ist sie aus keinem medizinischen Fachgebiet mehr wegzudenken. Die technologischen Entwicklungen erlauben es uns, nicht mehr nur das Äussere einer Person anzuschauen, sondern auch deren genetischen Informationen zu analysieren. Das führt dazu, dass wir präzisere Diagnosen stellen und dadurch auch gezieltere Therapiemöglichkeiten entwickeln können. Die individuelle und ganzheitliche Patientenbetreuung wird dadurch stark verbessert.
Wie verbreitet ist dieses Fachgebiet in der Schweiz mittlerweile?
Es gibt in der Schweiz ungefähr 40 Labore, die genetische Untersuchungen anbieten. Ausserdem gibt es rund 40 Ärztinnen und Ärzte, die den entsprechenden Fachtitel tragen. Man muss dazu sagen, dass die Rechtsgrundlage in der Schweiz – ähnlich wie in Deutschland und Österreich – sehr streng ist. Das Gesetz über genetische Untersuchungen, das im Jahr 2007 in Kraft getreten ist, hat zum Ziel, Missbräuche genetischer Untersuchungen oder Daten zu verhindern und die Qualität der genetischen Untersuchungen sicherzustellen. Mit der anstehenden Revision werden die Auflagen sogar noch strenger. Neben der durchs Bundesamt für Gesundheit ausgestellten Bewilligung wird es künftig zusätzlich eine offizielle Akkreditierung brauchen. Auch die Datenschutzrichtlinien wurden durch die Revision des entsprechenden Gesetzes nochmals verstärkt. Wir bewegen uns also in einem streng regulierten Umfeld.
Welche Arten von Missbräuchen will man damit verhindern?
Das Wichtigste ist das Selbstbestimmungsrecht jeder Person. Auch das Recht auf Wissen wie auf Nichtwissen wird im Schweizer Gesetz gross geschrieben. Der Schutz von urteilsunfähigen Personen – darunter auch Kindern – ist ebenfalls ausführlich reguliert. So dürfen bei Kindern etwa nur dann Gentests durchgeführt werden, wenn die Gesundheit des Kindes akut betroffen ist. Anders sieht es etwa bei Erbkrankheiten aus, die erst im Erwachsenenalter auftreten können. In diesem Fall dürfen Eltern nicht vorsorglich einen Gentest anordnen, um das Risiko abzuschätzen. Das ist erst dann möglich, wenn das Kind urteilsfähig wird und somit selbst seine Zustimmung geben kann.
Was ist bei einer genetischen Untersuchung besonders wichtig?
Das A und O einer genetischen Untersuchung ist eine klare Fragestellung. Ein Arzt muss genau wissen, wonach er sucht und die genetischen Befunde stets im Kontext der Symptome eines Patienten beurteilen. Dafür bieten sich verschiedene Vorgehensweisen an. So kann man etwa gezielt in einem einzigen Gen nach einer krankheitsverursachenden Variante suchen. Die Antwort wird dann ebenso klar ausfallen. Entweder findet das Labor die gesuchte Variante im getesteten Gen oder nicht. Diese Art von Gentest kommt vor allem dann zur Anwendung, wenn etwa die Familienmitglieder einer Patientin oder eines Patienten ihr eigenes Risiko, an derselben Krankheit zu erkranken, testen möchten.
Welche weiteren Varianten von Gentests sind üblich?
Nehmen wir an, ein Patient erleidet einen Herzinfarkt. Wir finden während der anschliessenden Anamnese heraus, dass in der Vergangenheit auch andere Familienmitglieder dasselbe Schicksal ereilte. Das wiederum gibt uns einen Hinweis auf eine Erberkrankung. In diesem Fall könnte man in einer sogenannten Panel-Diagnostik sämtliche Gene untersuchen, die im Zusammenhang mit dem Herz-Kreislaufsystem stehen.
Das Resultat dürfte bei diesem Vorgehen aber nicht mehr so eindeutig ausfallen, oder?
Es kann durchaus sein, dass man eine eindeutige pathogene Variante findet. In diesem Fall hat man eine klare Diagnose. Aber: Je mehr Gene man anschaut, desto grösser ist auch die Wahrscheinlichkeit, auf eine unbekannte Genvariante zu stossen, die noch nicht beschrieben wurde. In diesem Fall spricht man von einer Variante unklarer klinischer Signifikanz. Natürlich können wir dann mit verschiedenen Softwares und Tools herauszufinden versuchen, ob es sich eher um eine gutartige oder eine Krankheit verursachende Variante handelt. Unter Umständen bleibt der Befund aber dennoch unklar.
Ist eine Genvariante grundsätzlich etwas Gefährliches?
Überhaupt nicht. Die Mehrheit der Genvarianten, die wir in uns tragen, sind nicht krankheitsverursachend. Es gibt sogar zahlreiche Varianten, die uns Schutz vor Erkrankungen bieten. Aber wir kennen schlicht noch nicht alle Varianten, weshalb wir nicht in jedem Fall klare Erkenntnisse aus den Testergebnissen ziehen können.
Anders sieht es aus, wenn man bei einem Gentest zufällig auf eine andere Erkrankung stösst. Was dann?
Je mehr Gene man untersucht, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass man eine bekannte pathogene Variante findet, die aber nicht mit der primären Fragestellung in Zusammenhang steht. Ein Beispiel dafür ist Epilepsie – eine relativ komplexe Erkrankung. Bei einem entsprechenden Gentest schaut man mehr als 400 Gene an. Findet man bei dieser Auswertung nichts, kann man sämtliche kodierenden Abschnitte aller Gene – das sind rund 20’000 bis 23’000 – analysieren. Die Wahrscheinlichkeit, bei so vielen Genen auf irgendeine andere Erkrankung zu stossen, ist natürlich durchaus vorhanden.
Wie hoch ist das Risiko?
Das lässt sich nur schwer bezüglich einzelner Erkrankungen beziffern, aber die Erfahrung hat gezeigt, dass bei einer gross angelegten Analyse etwa in rund ein bis zwei Prozent der Fälle eine Krebsprädisposition detektiert wird.
Selbst die Unsicherheit über eine unbekannte Variante dürfte bei vielen Patienten Unbehagen auslösen. Schadet das Ergebnis mehr, als es hilft?
Genau deshalb ist die genetische Beratung so ausserordentlich wichtig – vor allem bei der Befundmitteilung. Man muss sich unbedingt genügend Zeit nehmen, um alles im Detail durchzugehen und zu erklären. Idealerweise ist bei diesem Gespräch nicht nur ein Genetiker, sondern auch die Fachspezialistin anwesend. So kann man, falls das nötig ist, umgehend weitere Schritte besprechen. Manchmal reicht es aber auch aus, das Thema weiterzuverfolgen und erst zu einem späteren Zeitpunkt zu intervenieren.
Wollen die Menschen überhaupt so viele Informationen über sich bekommen?
Das ist natürlich höchst individuell. Es gibt solche, für die sind Gene etwas sehr Intimes. Sie wollen nicht, dass irgendjemand in sie ‘reinschaut’. Jene, die einer genetischen Untersuchung zustimmen, möchten aus meiner Erfahrung aber überdurchschnittlich häufig auch über Zufallsbefunde informiert werden.
Finden Sie das sinnvoll?
Wenn man durch einen Zufallsbefund frühzeitig eine Therapie beginnen und so Schlimmeres vermeiden kann, finde ich das durchaus sinnvoll. Ich warne aber vor willkürlichen Gentests ohne spezifische Fragestellung, wie sie heutzutage auch oft online angeboten werden. Da werden Äpfel und Birnen verglichen und Laien mit 20-seitigen Befunden überfordert. Davon rate ich definitiv ab.
Wo sehen Sie die Grenzen der Genetik?
Wie bereits erwähnt, gibt es zahlreiche Varianten, die wir heute noch nicht beurteilen können. Allerdings schreitet dieses Forschungsfeld rasend schnell voran. Es ist deshalb empfehlenswert, nach zwei bis drei Jahren eine Reevaluation der Daten vorzunehmen. In den letzten zwei Jahren habe ich die Daten von rund 80 Patientinnen und Patienten mit zeitlichem Abstand erneut überprüft. In fast zwei Dritteln der Fälle konnte ich eine Variante, die vor wenigen Jahren noch unbekannt war, nun klar bestimmen.
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