Viele Patient:innen leiden nach ihrer Coronainfektion unter dem Long-Covid-Syndrom. Doch die Krankheit lässt sich nur schwer objektivieren, sagt Prof. Rami Sommerstein von der Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene bei Hirslanden Zentralschweiz. In unserem Interview betont er, wie wichtig die Betreuung durch Spezialist:innen ist, die das Krankheitsbild und die Symptome kennen. Betroffen seien vor allem Menschen nach einer schweren Coronainfektion, aber auch junge Menschen, die nur leichte Symptome gehabt hätten.

Was genau ist Long Covid und was sind die Symptome?

Das Spannende ist, dass es meiner Erfahrung nach nicht nur eine Erscheinungsform von Long Covid gibt. Long Covid ist vielmehr ein übergeordneter Begriff für mehrere anhaltende Beschwerden nach durchgemachtem Covid. Im Grossen und Ganzen müssen wir zwei Patientengruppen unterscheiden: Die Patient:innen mit einem schweren Krankheitsverlauf, bei denen mehrere Organe betroffen waren und deshalb hospitalisiert werden mussten. Nach einer solchen Erkrankung braucht es einfach eine gewisse Zeit, bis sich die Organfunktionen wieder erholen und der ganze Organismus wieder ins Gleichgewicht kommt.

Und die zweite Kategorie?

Die zweite Gruppe sind eher junge und ansonsten gesunde Menschen, die eigentlich einen milden Krankheitsverlauf hatten. Bei ihnen tauchen erst nach einer gewissen Zeit Symptome wie Müdigkeit oder «Brain Fog» («Hirn Nebel», d. h. kognitive Probleme, also Probleme «mit dem Denken», Konzentrationsstörungen, vermehrte Vergesslichkeit, Verlangsamung usw.) auf. Interessanterweise scheinen hier Frauen häufiger betroffen zu sein. Es gibt also kein einheitliches Krankheitsbild, sondern sehr unterschiedliche Phänomene, die wir unter Long Covid zusammenfassen. Hier Unterscheidungen vorzunehmen, ist wichtig.

Wie wirkt sich Long Covid auf den Alltag der Betroffenen aus?

Hier muss man wieder zwischen den beiden Krankheitsarten unterscheiden. Bei Patient:innen, die lange auf der Intensivstation waren, ist es üblich, dass sie erst einmal wieder lernen müssen, selbstständig zu atmen, zu essen und zu gehen. Diese Patient:innen müssen zuerst einmal die Muskeln wiederaufbauen. Eine solche Rehabilitation ist nach jedem Aufenthalt auf der Intensivstation üblich. Sie kann bis zu einem Jahr dauern. Hier gibt es auch gar nicht so grosse Unterschiede, ob jemand wegen einer schweren Grippe, wegen Covid oder wegen einer Komplikation nach einem Unfall auf der Intensivstation war.

Kann man sagen, dass jemand, der bei Covid einen schweren Krankheitsverlauf aufwies und deshalb auf der Intensivstation lag, auch eher unter Long Covid leidet?

Grundsätzlich gilt schon: Je schwerer der Krankheitsverlauf bei Covid war, umso länger dauert auch die Regeneration/Rehabilitation.

Aber ist das schon wirklich das Krankheitsbild Long Covid?

Long Covid beinhaltet im Grunde alle Symptome, die auch drei Monate nach der Diagnose Covid noch anhalten. Letztendlich kann es sich dabei um alle möglichen Symptome handeln. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Patient:innen, die während ihres Klinikaufenthalts schwer krank waren, sich nach drei Monaten noch nicht komplett erholt haben, ist gross.

Long Covid beschreibt also nicht nur langanhaltende Krankheitssymptome, sondern kann sich auch auf den Erholungsprozess beziehen?

Long Covid umfasst ein heterogenes Bild von Beschwerden. Das wichtigste diagnostische Kriterium ist, dass die Beschwerden auch drei Monate nach der Infektion noch anhalten. Im Allgemeinen ist mit Long Covid aber eher gemeint, dass Menschen mit einem milden Verlauf auch drei Monate danach noch immer unter Erschöpfungszuständen oder Konzentrationsschwierigkeiten leiden. Das ist wohl das klassische Bild von Long Covid. Medizinisch gesehen werden mit Long Covid aber alle Symptome bezeichnet, die drei Monate nach einer Coviderkrankung noch anhalten.

Inwiefern kann man bei einer Diagnose sicher sein, dass es sich auch tatsächlich um Long Covid handelt und nicht um eine neue Erkrankung?

Das ist tatsächlich ein Problem. Für Long Covid gibt es keine eindeutig objektivierbaren diagnostischen Tests. Das macht es schwierig. Letztendlich kann man die Diagnose «Long Covid» nicht mit Bestimmtheit treffen. Wir haben das daher immer umschrieben als «Verdacht auf Long Covid». Bei den Betroffenen, die auf der Intensivstation waren und messbare Defizite bei der Lungen- oder Herzfunktion aufweisen, ist die Diagnose einfacher.

Bei Patient:innen, die nur leicht erkrankt waren und verzögerte Symptome haben, ist sie schwieriger. Aber die Schilderungen sind glaubwürdig. Das sind häufig Menschen, die mitten im Leben standen und dann von den Symptomen aus der Bahn geworfen und arbeitsunfähig wurden. Das kann in Einzelfällen dramatisch sein.

Warum erkranken die einen an Long Covid und die anderen nicht? Gibt es hier ein typisches Profil?

Jetzt reden wir von der zweiten Gruppe der Erkrankten – also denen, die zunächst nur leicht erkrankt waren und dann Long-Covid-Symptome entwickelt haben. Hier wissen wir, dass es gewisse Risikofaktoren gibt. Es handelt sich um eher junge Menschen, häufiger Frauen und Ungeimpfte. Eine Impfung reduziert nicht nur das Risiko, an Covid zu erkranken, sondern auch das Risiko, Long Covid zu bekommen.

Warum sind eher die Jungen betroffen?

Das ist noch nicht abschliessend geklärt, aber der Hintergrund könnte sein, dass es sich dabei um fehlgeleitete Autoimmunphänomene handelt, die durch die Viren ausgelöst werden. Wir wissen generell, dass Frauen eher von Autoimmunerkrankungen betroffen sind.

Über die schwierige Diagnose haben wir bereits gesprochen, aber weshalb müssen die Betroffenen so viele Ärzt:innen aufsuchen?

Das passiert häufig, wenn eine diagnostische Unsicherheit besteht und die Beschwerden aufgrund der Untersuchungen und der diskriminierenden Tests nicht eingeordnet werden können. Dann besteht der Bedarf etwa nach einer neurologischen Abklärung oder nach einer Untersuchung durch einen Pneumologen oder eine Pneumologin oder den/die Psychiater:in. Hier sehe ich den grossen Nutzen der Long-Covid-Sprechstunde. Ein Arzt oder eine Ärztin, der/die das Krankheitsbild und die Symptome kennt, kann viel abdecken. Wir haben natürlich darüber hinaus unser Netzwerk und können die Patient:innen wenn nötig, zu den passenden Kardiologen/Kardiologinnen oder Pneumologen/Pneumologinnen schicken.

Wie viele Long-Covid-Fälle haben Sie schon betreut?

Bei uns im Spital hatten wir etwa 500 Patient:innen stationär. Von denen sind früher oder später etwa 10 bis 20 Prozent mit anhaltenden Entzündungsreaktionen, direkten Komplikationen, z. B. Lungenabszess oder anderen organischen Beschwerden, wieder ins Spital eingetreten. In der ambulanten Sprechstunde haben wir 15–20 Patient:innen gesehen, die sich nicht mehr konzentrieren können, sich abgeschlagen fühlen und nicht mehr arbeiten können. Hier waren vor allem junge Leute betroffen.

Haben sich diese Patient:innen inzwischen wieder erholt oder gibt es Betroffene, die vielleicht nie wieder so fit sein werden wie vor ihrer Erkrankung?

Hier fehlen uns noch die Langzeitdaten. In den nächsten ein, zwei Jahren werden wir hier sicherlich noch sehr viel mehr darüber lernen. Wir wissen aber, dass es bei den Fällen der Chronischen Müdigkeit (Chronic Fatique) viel Geduld braucht. Aber in den meisten Fällen gibt es irgendwann einen Moment, wo es plötzlich wieder besser geht. Um die Frage, ob es Fälle gibt, bei denen sich die Menschen nicht mehr vollständig erholen, wirklich beantworten zu können, ist es noch zu früh. Wir sehen eine Tendenz, dass innerhalb eines Jahres eine Besserung eintritt.

Welche Therapiemöglichkeiten gibt es bislang?

Bislang gibt es noch wenige Therapiemöglichkeiten mit bewiesener Wirksamkeit. Was generell empfohlen wird, ist Physiotherapie. Man muss in Bewegung bleiben, aber nicht an die Grenze gehen. Wenn man diese Grenzen überschreitet, führt dies eher dazu, dass die Patient:innen sich noch abgeschlagener fühlen und sehr lange Erholungszeiten brauchen. Es braucht sehr sanfte Rehabilitationsmassnahmen. Gute Daten, was das genau bringt, haben wir allerdings noch nicht.

Und sonst?

Alles andere ist experimentell. Da gibt es verschiedene Ansätze. Es gab Mediziner:innen, die angefangen haben, die Patient:innen zu impfen, weil sie annahmen, gewisse Bestandteile des Virus befänden sich noch im Körper. Es gibt Hinweise auf eine Verbesserung bei diesem Vorgehen. Aber auch die sind mit Vorsicht zu geniessen. Es gab Fälle, wo Ärzt:innen Paxlovid einsetzen*. Das ist ein Medikament, das direkt das Coronavirus hemmt. Ausserdem gibt es Studien zu einem frühen Stadium bei Chronic-Fatigue-Patient:innen, die auf eine mögliche Wirksamkeit von Antikörperinfusionen hinweisen. Das ist alles experimentell und entspricht nicht einer Standardtherapie.

Wie geht es den Menschen mit Long Covid und dem Chronic-Fatigue-Syndrom? Was sind die Parallelen?

Die grosse Müdigkeit. Die Müdigkeit ist bei den Long-Covid-Patient:innen stark ausgeprägt, ebenso die Konzentrationsschwierigkeiten. Häufig haben wir auch Störungen des autonomen Nervensystems gesehen. Die Betroffenen können sich fast nicht mehr aufrecht halten, weil die Regulation von Blutdruck und Herzkreislauf nicht funktional ist. Dieses Phänomen kann man auch messen und festhalten.

Junge Frauen tendieren eher zu Long Covid. Kann man gar nicht sagen, weshalb das so ist?

Bei Covid selbst spielen zum Beispiel die Blutgruppe und die Gene eine Rolle. Wieso Frauen stärker von Long Covid betroffen sind, ist nach meinem Wissensstand bisher noch nicht abschliessend geklärt.

Was raten Sie Betroffenen?

Wichtig ist, dass die Betroffenen medizinisch gut eingebunden sind und dass man sie ernst nimmt. Auch wenn die Diagnose selbst schwierig ist, sind die Beschwerden real und die Schilderungen der Patient:innen glaubwürdig. Ich wünsche mir, dass Long Covid ein Forschungsschwerpunkt wird. Wir müssen mehr darüber wissen, wie wir objektiv diagnostizieren und behandeln. Eine wichtige Frage ist auch, wie es mit Reinfektionen und nach Infektionen mit Omikron aussieht, insbesondere ob die Infektion mit der Omikron-Variante auch zu Long Covid führen kann. Bislang beschäftigten wir uns primär mit Betroffenen, die sich mit der Delta-Variante infiziert haben.

*Quelle: Case Study von Research Square