Eine Krebserkrankung und deren Therapie können sexuelles Unwohlsein und Funktionsstörungen hervorrufen. Dennoch ist es möglich, sexuelle Energie weiterhin als freudig und nährend zu erleben. Entscheidend ist dafür ein offener Dialog mit der Partnerin oder dem Partner sowie die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen und das bisherige erotische Spektrum zu erweitern.

„Wie geht es Ihnen in Momenten körperlicher Nähe?” Diese Frage stellte ich kürzlich einer 51-jährigen Frau, die mir als Patientin der ambulanten onkologischen Rehabilitation zugewiesen wurde. Vor rund einem Jahr erhielt sie die Diagnose Dickdarmkrebs. Seitdem verspürt sie keine sexuelle Lust mehr. Am Anfang war dies kein Thema für sie. Es ging zunächst darum, die Diagnose zu verarbeiten, Behandlungsmöglichkeiten zu verstehen und den Therapieweg zu gehen. Heute sieht es anders aus. Zwei Operationen und ein künstlicher Darmausgang, wenn auch „nur” vorübergehend für sechs Monate, hinterliessen ihre Spuren – körperlich wie auch psycho-emotional. Auf meine Frage antwortete sie: „Wir kommen uns nicht nahe, weil wir beide nicht damit umgehen können. Nichts ist mehr wie vor der Krankheit!”

Auswirkungen von Krebs auf die Sexualität

Eine Krebserkrankung, ihr Verlauf und deren Behandlung können sexuelles Unwohlsein und Funktionsstörungen hervorrufen oder verstärken. Die Diagnose Krebs ist meist ein Schock und muss von den Betroffenen selbst sowie von der Partnerin bzw. dem Partner verarbeitet werden. Hinzu kommt der komplexe Behandlungsweg, der durch Operationen, Bestrahlungen, Medikamente oder das Implantieren von Fremdkörpern psycho-emotionale Belastungen mit sich bringen kann. Veränderungen am Körper können das sexuelle Wohlsein, das sexuelle Erleben, die Identität und die eigene Attraktivität störend beeinflussen. Mitunter fühlen sich die Betroffenen „nicht mehr genug”, wenn der Körper sich verändert hat oder bestimmte Körperfunktionen, wie zum Beispiel die Erektion oder die Lubrikation bei der Frau, nicht mehr so sind wie vor der Krankheit. Statt Freude führt Sexualität dann zu Frust oder verursacht gar Schmerzen.

Körperveränderungen können zu Distanz führen

Alleinstehende Personen trauen sich häufig nicht mehr, aktiv nach Sexualpartner:innen oder Beziehungen zu suchen. Bei Paaren beginnt häufig ein schleichender und unbewusster Prozess der Entfremdung. Längere Umarmungen finden immer seltener statt, Küsse werden weniger – bis fast gar kein körperlicher Kontakt mehr da ist. Irgendwann baut sich zwischen den Partnern eine Luftmauer auf, die manchmal dicker und manchmal dünner ist. Fühlen sie sich gegenseitig zurückgewiesen, kann sie dies an der eigenen Attraktivität und unter Umständen an ihrer Liebe füreinander zweifeln lassen.

Offener Dialog ist entscheidend

Trotz der Veränderungen, die eine Krebsdiagnose mit sich bringt, ist es dennoch möglich, sexuelle Energie weiterhin als freudig und nährend zu erleben. Dafür ist ein offener Dialog zwischen den Partnern entscheidend. Ausserdem sollten sie bereit dafür sein, sich in der körperlichen Zweisamkeit „neu erforschen“ zu wollen. Bei vielen Paaren klappt das ohne Unterstützung. Andere sind hingegen froh, wenn sie dabei von einer Fachperson der Sexologie begleitet werden.

Sexualität hat verschiedene Facetten

Nicht jede Krebserkrankung bringt die gleichen Herausforderungen mit sich, und nicht alle Menschen wollen darüber sprechen oder Lösungen finden. Deshalb ist es wichtig, dass Fachpersonen der Pflege, Therapie und Medizin die sexuelle Gesundheit in den Sprechstunden thematisieren. Dadurch legitimieren sie ein Lebensthema und können bei Bedarf an Fachpersonen der Sexologie verweisen. Seit den 1980er Jahren bestätigen die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Weltorganisation für sexuelle Gesundheit (WAS) sowie zahlreiche Studien im Zusammenhang mit Onkologie, dass das allgemeine Wohlbefinden und die Lebensqualität jedes Einzelnen auch von der Qualität des sexuellen Wohlbefindens abhängen. [1] Das positive Erleben der sexuellen Energie wirkt für Krebsbetroffene also unterstützend – unabhängig ob in der akuten Behandlungsphase, während der Rehabilitation, in der Chronizität oder am Lebensende.

Wenn Menschen in die Sexualberatung kommen, ist es meine Aufgabe als Therapeutin herauszufinden, was Sexualität für die Person oder das Paar bedeutet. Der Begriff Sexualität schliesst so viele Facetten ein, dass man leicht aneinander vorbei redet. Für manche ist Sexualität das Erleben von Nähe, Berührung und Kuscheln. Für andere steht das Wort ausschliesslich für Geschlechtsverkehr oder die Stimulation von Genitalien. Für manche hat es nochmals andere Bedeutungen.

Individuelle Beratung

Wenn eine Person zum ersten Mal zu mir kommt, befrage ich sie zunächst zu ihrer Biographie, der aktuellen Situation und ihrem Verständnis für die eigene Sexualität. Ein Ziel meiner Arbeit ist es, dass die Betroffenen verstehen, warum sich das, was sie störend oder hinderlich erleben, so entwickelt hat. Dabei ist nicht nur ausschlaggebend, was während der Erkrankung passiert ist. Es kommt auch darauf an, wie die Sexualität und Beziehungen vorher gelebt wurden. Eine individuelle Beratung kann im Einzel- oder Paarsetting stattfinden. Anhand ihres körperlichen und psycho-emotionalen Befindens, den Wünschen der Personen und ihrer aktuellen gesundheitlichen Verfassung, begleite ich die Menschen zu einer entspannten und nährenden Sexualität. Das kann auch bedeuten, dass bisherige sexuelle Gewohnheiten in Zukunft anders oder nicht mehr gelebt werden. Es bedeutet jedoch keinesfalls automatisch weniger sexuelle Zufriedenheit.

Neue Wege zur erfüllten Sexualität

Es gibt viele Möglichkeiten, das sexuelle Erleben zu verbessern oder den Zugang zur Lust wieder zu finden. So können beispielsweise spezielle Pflegeprodukte, Gleitmittel, Massageöle, ausgesuchtes Erotikspielzeug sowie medizinische Hilfsmittel, darunter Dilatatoren, Penispumpen und Medikamente, dabei unterstützen. Häufig arbeite ich bei sexuellen Störungen, abgesehen vom behandelnden Arzt, auch mit Fachpersonen aus der Physiotherapie oder der Komplementärmedizin zusammen. Jede Situation ist einzigartig und erfordert einen individuellen Lösungsweg.

Grundsätzlich ist es wichtig, die aktuelle Situation nicht mit früher zu vergleichen und das „Alte” zu suchen, sondern sich neugierig auf Neues einzulassen und das bisherige erotische Spektrum zu erweitern. Häufig nehmen die Paare besonders viel aus meiner Beratung mit, die schon seit 20 Jahren oder länger zusammen sind. Es ist eine Chance, sich und den anderen neu zu entdecken und gemeinsam neue Wege zu gehen – sowohl in der körperlichen Zweisamkeit als auch in einer neuen Art miteinander zu reden und aufeinander einzugehen.

Quellen

[1] https://worldsexualhealth.net/resources/
https://worldsexualhealth.net/wp-content/uploads/2021/01/2019_WAS_Declaration_on_Sexual_Pleasure.pdf.