«Rapid Recovery» ist ein Behandlungskonzept mit dem Ziel, dass Patienten nach Erhalt eines künstlichen Knie- oder Hüftgelenks sicher und rasch in den Alltag zurückkehren. Die Patientensicherheit und Patientenzufriedenheit stehen dabei im Mittelpunkt.

Auch in der Schweiz bieten einige wenige Kliniken dieses ganzheitliche Behandlungskonzept an. Dazu gehören die Hirslanden Klinik Aarau und die Hirslanden Klinik Permanence in Bern. Im Kanton Aargau haben die beiden Orthopädischen Chirurgen Dr. med. Lukas Schatzmann und Dr. med. Roger Sprecher dieses Konzept in Zusammenarbeit mit der Hirslanden Klinik Aarau etabliert. Inzwischen wurden an der Hirslanden Klinik Aarau bereits über 600 Eingriffe nach diesem Behandlungskonzept durchgeführt. Dr. med. Lukas Schatzmann erklärt uns im Interview, was es damit auf sich hat.

Was ist der Unterschied zwischen dem konventionellen Gelenkersatz bei Hüfte und Knie und «Rapid Recovery»?

Dr. med. Lukas Schatzmann: Der Hauptunterschied ist, dass man eine streng evidenzbasierte Medizin anwendet, also nur medizinische Massnahmen, von denen man ausgehen kann, dass sie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führen.

Ist das in der Medizin denn nicht immer der Fall?

Dr. med. Lukas Schatzmann: Medizin ist keine exakte Wissenschaft wie die Physik, wo man zum Beispiel weiss, dass etwas auf den Boden fällt, wenn man es fallen lässt. In der Medizin kann man nur sagen, dass etwas mit hoher Wahrscheinlich passiert. So muss man dauernd Entscheidungen treffen, die den Behandlungspfad für den Patienten ergeben. Wenn wir diese Entscheidungen streng wissenschaftlich basiert treffen, haben wir die Gewährleistung, dass wir den Patienten optimal behandeln.

Bei den «herkömmlichen» Methoden ist viel Tradition dabei. Diese birgt die Gefahr, dass man zu bequem wird, Bestehendes zu ändern und Neues einzuführen, das besser für den Patienten wäre. Auf Basis wissenschaftlicher Prinzipien hinterfragen wir aber fortlaufend, was bisher Standard war. Dies führt nicht zu extremen Umwälzungen mit wahnsinnigen Innovationen, sondern man schneidet viel mehr «alte Zöpfe» ab. Der Fortschritt ist eigentlich das Aufgeben von unnötigen oder sogar wissenschaftlich erwiesenermassen kontraproduktiven Traditionen.

Was heisst das konkret?

Dr. med. Lukas Schatzmann: Das betrifft zu einem einige operative Massnahmen, die auf den Prüfstand gestellt wurden. So hat sich zum Beispiel gezeigt, dass bei vielen Patienten eine Blutsperre während der Operation weggelassen oder auf eine Redon-Drainage (leitet das Wundsekret nach aussen) verzichtet werden kann. Das Weglassen reduziert Komplikationsrisiken (Thrombosen, Infektionen etc.) sogar deutlich und beschleunigt die Rehabilitation.

Aber auch im weiteren Behandlungsprozess gibt es viele Verbesserungen. Hier spielt das ganze Team mit, zu dem neben den Ärzten auch die Pflege, die Physiotherapie und die Administration gehören. Das Behandlungskonzept hat viele Abläufe klar standardisiert und Weichenstellungen vorgegeben, was die interdisziplinäre Zusammenarbeit stark erleichtert. So ist zum Beispiel klar definiert, welche Kriterien ein Patient erfüllen muss, damit er nach Hause darf.

Viele weitere Massnahmen senken das Komplikationsrisiko für den Patienten und helfen, dass er rasch wieder selbstständig wird. Dazu gehört die frühe Mobilisation des Patienten.

Erzählen Sie uns mehr darüber.

Dr. med. Lukas Schatzmann: Früher dachte man, man tue dem Patienten einen Gefallen, wenn man ihm nach der Operation einen bis zwei Tage Bettruhe gibt. Das birgt allerdings ein grosses Thromboserisiko. Zudem steigt die Sturzgefahr: Die Patienten haben nach zwei Tagen aufgrund von Kreislauf- oder Schwindelproblemen mehr Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Deshalb versuchen wir, die Patienten bereits innerhalb der ersten sechs Stunden nach der OP auf die Beine zu stellen. Das funktioniert nicht immer gleich gut: Während die einen Patienten schon freudig die Krücken in die Luft strecken, stehen die anderen nur kurz am Bettrand. Aber bereits dieses Manöver senkt die Thrombosegefahr massiv.

Was gehört noch zu diesem Behandlungskonzept?

Dr. med. Lukas Schatzmann: Wir informieren den Patienten und sein Umfeld umfassend. Gerade bei Wahleingriffen ist eine gute Wissensgrundlage des Patienten elementar. So wissen die Patienten, um was es geht, und ziehen am selben Strick. Das beginnt mit einer sehr umfassenden Aufklärung in der Arztpraxis. So stellen wir sicher, dass wir Patienten operieren, die überzeugt sind, dass diese Operation im jetzigen Zeitpunkt das Richtige für sie ist, und keine falschen Erwartungen daran haben.

Hat sich ein Patient für die Operation entschieden, nimmt er zusammen mit anderen Patienten an einer Informationsveranstaltung zwei bis drei Wochen vor der Operation teil. Dort erfahren Patienten nochmals aus erster Hand, was genau auf sie zukommt: Vom Chirurgen, vom Anästhesiearzt, einer Pflegefachperson und einem Physiotherapeuten. Das nimmt Ängste und bereitet sie vor. Die Patienten nehmen eine Begleitperson mit, die auch informiert und aktiv miteinbezogen wird. Das ist sehr wichtig, denn auch die Angehörigen sollen mit im Boot sein. Es soll ihnen klar sein, dass sie die operierten Patienten nicht zu sehr «verwöhnen“, sondern sie mit einem gesunden Mass antreiben müssen, zum Beispiel konkret noch eine Runde mehr über den Gang zu gehen.

Welche Vorteile hat der Patient von diesem Behandlungskonzept?

Dr. med. Lukas Schatzmann: Die evidenzbasierte Medizin macht die Behandlung zielführender. Die vielen einzelnen Massnahmen und standardisierten Abläufe führen zu einer höheren Patientensicherheit. Dazu gehören geringeres Thrombose- und Infektionsrisiko, kleinere Sturzgefahr etc. Weniger Komplikationen und die gute Information des Patienten führen dazu, dass er rascher Vertrauen in sein neues Gelenk gewinnt und schneller mobil und selbstständig wird. Das alles führt schlussendlich zu einer höheren Patientenzufriedenheit.

Was bedeutet das für den Klinikaufenthalt und dessen Dauer?

Dr. med. Lukas Schatzmann: Der Begriff «Rapid Recovery» ist etwas verfänglich. Anstatt von «rascher» Erholung würde ich persönlich lieber von «sicherer» Erholung sprechen, denn eine verkürzte Aufenthaltsdauer in der Klinik stand nie im Vordergrund. In der Tat ist es aber so, dass, resultierend aus all diesen Massnahmen, die Patienten viel schneller selbstständig werden und meist früher die Klinik verlassen. Sie werden weniger «behütet», was anfangs sicher auch anstrengend für die Patienten ist, aber sie letztendlich auch rascher weiterbringt.

Besteht durch eine frühe Entlassung keine grössere Gefahr für Folgekomplikationen?

Dr. med. Lukas Schatzmann: Diese Bedenken gab es natürlich. Aber Studien und unsere eigene Erfahrung zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist: Je früher jemand die Klinik verlässt, desto geringer ist die Gefahr für Infektionen. Ebenso gibt es bei dieser Behandlung weniger Stürze zuhause und weniger Wiedereintritte innerhalb der ersten 30 Tage nach der Operation.

Für welche Patienten kommt ein solches Behandlungskonzept in Frage?

Dr. med. Lukas Schatzmann: Grundsätzlich für alle; alles andere wäre ja ein Widerspruch zur evidenzbasierten Medizin. Nehmen wir mal an, es geht um einen gebrechlichen Patienten mit einer Nebenerkrankung wie Parkinson. Ein solcher Patient ist an sich schon sturzgefährdet und unsicher. Es wäre völlig falsch, ausgerechnet diesem zwei Tage Bettruhe nach der Operation zu verordnen, da dies das Sturzrisiko ja noch mehr erhöht. Dieser wird genau gleich in das Behandlungskonzept eingebettet, natürlich nicht mit der Erwartung, dass er die Klinik gleich schnell verlässt wie ein Patient ohne Nebenerkrankung.

Wir versuchen, den Patienten mit diesem Behandlungskonzept einen optimierten und möglichst sicheren Behandlungspfad vorzugeben und ihn durch diesen zu begleiten. Dies macht die Patienten schlussendlich zufriedener.

Auch die behandelnden Ärzte, Kliniken und Kostenträger sind zufriedener. Jede Komplikation kostet viel Aufwand und Geld. Weitere ökonomische und betriebliche Vorteile ergeben sich automatisch als Nebeneffekt der verschiedenen optimierten Abläufe. Ich betrachte dieses Konzept wirklich als Win-Win-Win-Situation für Patient, Arzt und Kostenträger.

 

Besten Dank für das spannende Interview.