Aufgrund des Coronavirus hat sich für viele von uns der Alltag schlagartig verändert. Wer kann, arbeitet im Home Office und schränkt seine sozialen Kontakte so gut wie möglich ein. Viele Fragen sich aktuell: Wie kann ich verhindern, dass mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt? Welche Massnahmen kann ich treffen, um mir die soziale Isolation zu erleichtern? Wir haben bei Psychologin Dr. Valentina Rauch-Anderegg nachgefragt.

Frau Dr. Valentina Rauch-Anderegg. Viele Paare fragen sich, wie sie aktuell die Arbeit, ihre Freizeit, den Haushalt sowie die Kinderbetreuung unter einen Hut kriegen. Welche Tipps können Sie diesen Familien geben?

Dr. Valentina Rauch-Anderegg: In erster Linie ist es sehr wichtig, dem Alltag Struktur zu verleihen. Ein gemeinsam erstellter Plan, der gut sichtbar aufgehängt ist, dient allen Familienmitgliedern als Orientierungshilfe und verhindert Kontrollverlust und Hilflosigkeit. Wenn alle Familienmitglieder bei der Planerstellung eine aktive Rolle haben, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass der Plan auch eingehalten wird. Ausserdem regelt eine klare Alltagsstruktur die Essens-, Schlaf-, Lern- und Spielzeiten und gibt der ganzen Familie Halt und Orientierung. Wichtig ist auch, dass die Kinder Zeit für freies Spielen und genug körperliche Aktivität haben. Wem die Ideen fehlen, kann sich online Inspiration holen und beispielsweise bei Youtube nach «Workout mit Kindern» suchen. Je nach Präferenz kann man noch ein Stichwort zur präferierten Sportart hinzufügen, z.B. «Yoga mit Kindern».

Auch wenn es verlockend ist, sollte die Bildschirmzeit für Kinder limitiert werden. Es ist normal, dass die Kinder ihre Freunde vermissen und vielleicht sogar bei ihren Eltern klammern. Versuchen Sie dem Bedürfnis nachzukommen und dem Kind in dieser ungewohnten Zeit so viel Geborgenheit und Sicherheit wie möglich zu vermitteln.

Beziehen Sie Ihre Kinder in Alltagsaktivitäten mit ein: sie können helfen beim Kochen, gemeinsam mit Ihnen etwas backen oder sich mit Ihnen um den Garten kümmern.

Der Partner telefoniert zu oft oder haut ständig laut in die Tasten: Was kann man tun, wenn man sich im Home Office gegenseitig auf die Nerven geht?

Dr. Valentina Rauch-Anderegg: Verständnis und gegenseitige Rücksicht erleichtern die aktuelle Situation für alle Beteiligten. Es kann helfen, sich abzusprechen, wer wann in welchem Zimmer arbeitet. So kann vermieden werden, dass beide Partner gleichzeitig am selben Ort eine Telefonkonferenz haben und sich gegenseitig stören. Zusätzlich gibt es viele technische Hilfsmittel, die ebenso Frustration und Gereiztheit entgegenwirken können wie Ohropax, Noise-cancelling-Kopfhörer, extra-leise Tastaturen usw.

Neu verbringt man 24 Stunden mit der Partnerin oder dem Partner auf engem Raum. Wie kann man trotzdem Inseln für sich schaffen?

Dr. Valentina Rauch-Anderegg: Abwechslung im Alltag und eine Balance zwischen Zeit für sich und Paarzeit ist zentral. Versuchen Sie, nicht alle Aktivitäten gemeinsam zu machen, sondern sich auch mal Freiraum zu lassen. Respektieren Sie, wenn das Gegenüber mal einen Abend für sich möchte. Wenn Sie anschliessend wieder zusammenkommen, haben Sie sich bestimmt wieder Neues zu erzählen. Vergessen Sie aber nicht, dass es zwischendurch auch verbindend sein kann, gemeinsam die Stille zu geniessen.

Das Sozialleben findet nur noch in den eigenen vier Wänden statt. Was tun gegen den Hüttenkoller?

Dr. Valentina Rauch-Anderegg: Eine selbstgewählte Routine mit Abwechslung kann Abhilfe schaffen. Gibt es Dinge, die Sie schon lange mal machen oder ausprobieren wollten (beispielsweise Ihre Möbel umstellen, malen, eine Geschichte schreiben)? Planen Sie täglich ein Highlight, auf das Sie sich freuen können. Ebenso kann man sich die eigenen Stärken in Erinnerung rufen, die früher bei der Bewältigung von schwierigen Zeiten geholfen haben.

Wenn die Quarantäne auf die Stimmung schlägt, ist es wichtig, dass Sie sich auf Positives fokussieren. Erzählen oder schreiben Sie Ihren Freunden und Bekannten von schönen Erlebnissen. Dazu kann man beispielsweise jeden Abend drei positive Dinge notieren, die tagsüber passiert sind.

Welche Auswirkungen kann das Coronavirus auf die Psyche der Menschen haben?

Dr. Valentina Rauch-Anderegg: Wie eine ganz aktuelle Studie zeigt, kann Quarantäne viele unterschiedliche Gefühle auslösen wie Angst, Sorge, Trauer, Verwirrung, aber auch Wut und Aggression. Grübeln ist eine Strategie von vielen, um mit der ungewohnten Situation umzugehen. Aber wenn es zu viel wird, kann es zu einem Gedankenkarussell kommen, was wiederum zu mehr Stress führt. Daher kann es helfen, die «Grübelzeiten» zu begrenzen und sich bewusst Positives vorzunehmen, das Spass macht.

Das Ungleichgewicht zwischen Anforderungen und Bewältigungsmöglichkeiten

Die aktuelle Situation kann bei vielen Stress und Belastung auslösen. Stress meint das Ungleichgewicht von Anforderungen (bspw. plötzlich nur noch zu Hause sein, einen Lernplan einhalten usw.) und Bewältigungsmöglichkeiten (bspw. mit anderen sprechen, Sport machen, sich ablenken). Mit der aktuellen Situation gehen viele Einschränkungen einher (d.h. die Belastung wird subjektiv grösser) und es fallen Bewältigungsmöglichkeiten weg. Folgedessen fühlen sich viele gestresster und belasteter. Wenn man gestresst ist, können auch andere Charakterzüge aktiviert werden, man ist ungeduldiger, weniger tolerant, zickiger usw. und es kommt eher zum Streit oder sogar zu Gewalt.

Es ist darum wichtig, Ärger anzusprechen, bevor die Situation eskaliert und sich bei Bedarf Hilfe zu holen.

Welche Massnahmen sollte man ergreifen, um sich selbst die Isolation einfacher zu machen?

Dr. Valentina Rauch-Anderegg: Es hilft, sich weiterhin mit den Freunden und der Familie auszutauschen und in Kontakt zu bleiben. Damit schafft man einen Ausgleich und verringert das Gefühl der Einsamkeit.

Eine Tagesstruktur hilft zudem beim Aufrechterhalten vom Wohlbefinden und sollte unbedingt auch täglich angenehme Aktivitäten beinhalten. Ebenso wichtig ist regelmässige körperliche Aktivität. Dazu kann man auch Onlinekurse ausprobieren und so Neues entdecken.

Haben es alleinlebende Menschen jetzt besonders schwierig?

Dr. Valentina Rauch-Anderegg: Wie belastend jemand die aktuelle Situation empfindet, hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Alleinlebende Personen brauchen etwas mehr Eigeninitiative um eine Alltagsstruktur aufrechtzuerhalten bzw. beizubehalten und einen grösseren Effort, um sich mit anderen Personen auszutauschen. Elektronische Hilfsmittel wie das Telefon und der Computer können dabei helfen, mit anderen in Kontakt zu bleiben.

Welche positiven Aspekte sehen Sie durch die Einschränkungen im Leben von uns allen?

Dr. Valentina Rauch-Anderegg: Die Einschränkungen entschleunigen das Leben von vielen, da sie weniger Termine haben. Ausserdem gibt es die Möglichkeit, Sachen in Angriff zu nehmen, die man schon länger wollte oder Neues auszuprobieren. Zudem wird man sich bewusst, wie bedeutsam der physische Kontakt mit Mitmenschen ist und wie viel einem das soziale Umfeld bedeutet. Gleiches kann für andere Sachen wie bspw. die körperliche Aktivität gelten.

Professionelle Hilfe

Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass das Risiko für Depressionen und andere Angststörungen nach Quarantäne-Situationen steigen. Daher ist es wichtig, gut auf sich zu achten und lieber früh genug Fachpersonen aufzusuchen. Psychologen bieten immer häufiger auch online ihre Dienste an.

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