Dank der Aktion «Spenden statt schenken» erhalten Frauen, die aufgrund von Geburtskomplikationen an den Rand der Gesellschaft gerückt sind, in Afghanistan, Bangladesch, Äthiopien und im Tschad ein neues Leben in Würde und Selbstachtung. Das Schweizer Hilfswerk Women’s Hope International engagiert sich für die Verbesserung der Gesundheit rund um Schwangerschaft und Geburt in diesen Ländern.

Dr. med. Martin Leimgruber, Belegarzt der Hirslanden Klinik Beau-Site in Bern, war selber mehrere Jahre als Arzt im Tschad tätig. Zusammen mit seiner Frau Claudia Leimgruber-Neukom, freischaffende Hebamme, gründete er 2003 Women’s Hope International. Kernthemen des Schweizer Hilfswerks sind «Starke Mädchen und Frauen», «Sichere Geburten» und die «Heilung von Geburtsfisteln». Letzteres Thema war Anlass für das Ehepaar, das Hilfswerk zu gründen, und ist nach wie vor zentral für Women’s Hope International. Dr. Leimgruber erklärt uns im Interview, worum es sich bei Geburtsfisteln handelt und wie dank der Spende von Hirslanden geholfen werden kann.

Was sind Geburtsfisteln und wie entstehen sie?

Dr. med. Martin Leimgruber: Eine Geburtsfistel ist eine gravierende Geburtskomplikation. Sie entsteht bei verzögertem Geburtsverlauf bis hin zum Geburtsstillstand ohne die Möglichkeit fachkundiger Geburtshilfe wie zum Beispiel einem Kaiserschnitt.

Durch konstanten Druck des kindlichen Kopfes während tagelanger Wehentätigkeit auf das Gewebe des Geburtskanals kommt es zum Absterben von Gewebe zwischen der Scheide und der Blase und/oder dem Enddarm. Tausende von Frauen überleben eine solche schwere Geburt schon gar nicht. Bei denjenigen, die sie überstehen, führen die schweren inneren Verletzungen, ein Durchbruch zwischen Blase oder Enddarm und der Scheide, zu unkontrolliertem Urin- und/oder Stuhlabgang. Die Inkontinenz macht es für die Betroffenen fortan unmöglich, ein normales Leben zu führen. Das Kind stirbt meistens bei der Geburt. Oft werden die Frauen von ihren Männern geschieden und von der Familie und der Gesellschaft ausgegrenzt. Sie verlieren somit nicht nur ihr Kind, sondern auch ihre Gesundheit und ihr Leben in der Gemeinschaft.

Was kann man medizinisch gegen Geburtsfisteln tun?

Dr. med. Martin Leimgruber: Ungefähr 80% der Frauen mit Fisteln können mit einer oder mehreren Operationen geheilt werden. Das Ausmass des abgestorbenen Gewebes, das heisst die Grösse und Komplexität der Fistel, und die Fachkenntnis des Operateurs sind massgebend für den Erfolg der Operation.

Eine kleine Fistel kann unter Behandlung mit einem Blasenkatheter abheilen, falls dieser ganz früh nach dem Entstehen der Fistel eingelegt wird.

Bei sehr grossen Fisteln, bei denen der Grossteil der Harnblase und die Harnröhre abgestorben sind, ist eine Rekonstruktion oft nicht mehr möglich. Da besteht die Möglichkeit, mit einem ausgeschalteten Stück Dünndarm ein Reservoir für den Urin zu formen und diesen über eine Öffnung in der Bauchwand (Stoma) abzuleiten. Dies ist natürlich ein ausgesprochen grosser Einschnitt ins Leben der betroffenen Frau und setzt voraus, dass sie immer in der Nähe von kompetenten medizinischen Einrichtungen wohnt.

Weshalb sind Geburtsfisteln in Entwicklungsländern häufiger als in Industrieländern?

Dr. med. Martin Leimgruber: Geburtsfisteln kommen nur in Entwicklungsländern vor, weil dort die geburtshilfliche Versorgung schlecht ist und viele der werdenden Mütter sehr jung sind. 85% aller Frauen, welche unter einer Geburtsfistel leiden, sind in Afrika beheimatet. Früher gab es auch Geburtsfisteln in den westlichen Ländern. Mit der guten Geburtshilfe, insbesondere der Verfügbarkeit eines Kaiserschnitts, ist dieses Krankheitsbild hier verschwunden.

Warum sind in Ländern wie dem Tschad Geburtsfisteln nicht «nur» ein rein gesundheitliches Problem?

Dr. med. Martin Leimgruber: Wenn in Armut lebende Frauen schon als Mädchen zwangsverheiratet und zu früh schwanger werden, keine Schulbildung und keinen Zugang zu Verhütungsmitteln haben, sind leider die Bedingungen gegeben, die zur komplexen Problematik der geburtsbedingten Fisteln führen. Die betroffenen Frauen sind inkontinent, werden nach der Totgeburt des Kindes häufig vom Ehemann verlassen und von der Dorfgemeinschaft ausgestossen. Das Drama der Betroffenen könnte nicht grösser sein. Entsprechend hoch ist die Depressions- und Suizidrate. Die Rehabilitations- und Integrationsprogramme müssen dieser schwierigen Situation gerecht werden. Die Erfolgsrate der Behandlung von Frauen mit Geburtsfisteln ist somit nicht nur abhängig von einer gelungenen Operation, sondern einer ganzheitlichen Betreuung.

Wie ist das Engagement von Women’s Hope International (WHI) für Frauen mit Fisteln?

Dr. med. Martin Leimgruber: Women’s Hope hat sich drei Schwerpunkte zum Auftrag gemacht:

Heilung von Fisteln: WHI engagiert sich in der Identifikation, Behandlung, Rehabilitation und Reintegration von Frauen und Mädchen mit Geburtsfisteln. Dabei ermöglicht WHI Gynäkologinnen die spezifische Ausbildung in der Fistelchirurgie. Geheilte Frauen werden geschult, damit sie die Bevölkerung über die Thematik der sicheren Geburt und die Problematik der geburtstraumatischen Verletzungen sensibilisieren können. Zusätzlich engagieren sie sich in der Suche und Identifikation betroffener Frauen und begleiten sie häufig bis in die Klinik, in der sie selber operiert und geheilt wurden.

Sichere Geburten: WHI unterstützt die fachkundige Begleitung von Frauen und Mädchen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Um dies zu ermöglichen, werden Hebammen ausgebildet und funktionstüchtige Geburtskliniken gebaut. Es wird sichergestellt, dass bei einer akuten Notsituation operative Geburtshilfe möglich ist.

Starke Frauen: WHI fördert und stärkt Mädchen und Frauen in ihrer gesellschaftlichen Stellung und ermöglicht Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Dazu gehört gesundheitliche Beratung inklusive Familienplanung. WHI setzt sich ein, damit Kinderehen und Teenagerschwangerschaften nicht mehr vorkommen.

Wie können Sie konkret dank der Spende von Hirslanden helfen?

Dr. med. Martin Leimgruber: Dank der Spende können über 130 Frauen, welche unter den Folgen einer Geburtsfistel leiden, mit einer Operation geheilt werden und so zurück in ein neues Leben in Würde und Selbstachtung finden.

Wie kam es dazu, dass Sie und Ihre Frau bzw. Women’s Hope International sich speziell dem Thema Geburtsfisteln angenommen haben?

Dr. med. Martin Leimgruber: Wir lebten während mehrerer Jahre im Tschad. Ich hatte die medizinische Verantwortung eines staatlichen Gesundheitsdistriktes, meine Frau war die einzige Hebamme im ganzen Distrikt. In diesem Kontext sind wir erstmals Mädchen und Frauen mit Geburtsfisteln begegnet. Meine Frau und ich hatten bis dahin keine Ahnung von diesem Krankheitsbild. Weder im Studium noch im klinischen Alltag in der Schweiz wurden wir mit dieser Tragödie konfrontiert. Das unglaubliche Leid und die grosse Not dieser oft sehr jungen Frauen haben uns tief bewegt und betroffen gemacht.

Wir organisierten die ersten beiden Operationscamps im Tschad mit Spezialisten für Fistelchirurgie aus dem Addis Ababa Fistula Hospital. Als wir aus gesundheitlichen Gründen zurück in die Schweiz mussten, war für uns klar, dass wir uns weiterhin für die betroffenen Frauen engagieren möchten. So haben wir 2003 zusammen mit Freunden Women’s Hope International gegründet.

 

Herzlichen Dank für das spannende Interview und weiterhin viel Erfolg mit Ihrem Engagement!

 

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